Moderne Spiritualität – Blümchen, Happiness und spiritueller Konsum

— von Olaf T. Schubert —

Bücher, Podcasts, Internet, Youtube, Seminare, Workshops, Satsangs und Retreats – das Angebot für spirituell Suchende ist heute fast unüberschaubar. Dabei kann man auch im deutschsprachigen Raum, fast im Gegensatz zu den klassischen Religionen, spirituellen Wegen, Schulen und Klöstern, und vor allem durch die neuen medialen Möglichkeiten gefüttert, zwei neue Strömungen ausmachen, die ein beträchtliches Massenpublikum anziehen: 

  1. Spiritualität als neue (bessere) Form von Konsum… von Büchern, Podcasts, Youtube Videos, Workshops und Retreats… ohne direkte Beziehung zu einem Lehrer oder Meister, die eigene Spiritualität wird selbst zusammengestellt und im Alleingang gemanagt, 
  2. Halt-Suche im Folgen eines Lehrers/Gurus (oft modern auch Coaches), Suche nach Heilung und Problemlösung… mit stark emotionalen Bindungen und Verhaltensweisen. 

Viele Menschen bezeichnen sich heute als spirituell, folgen z.B. einem Lehrer bzw. einer Lehre, lesen ein Buch nach dem anderen, schauen Videos und hören Podcasts verschiedenster Meister/Lehrer zu allen möglichen Problemstellungen, manche sagen sie sind jetzt Buddhisten… Fragt man dann aber mal ein bisschen genauer nach… „Okay, sehr interessant, und wie praktizierst du das im Alltag? Meditierst du regelmäßig? Gibt es Zeiten der Reflexion? Wie verändert sich dein Verhalten im Alltag? Wer gibt dir Feedback zu deiner Entwicklung?“ Oft stellt sich dann der Eindruck ein, dass es sich hier eher um einen Fall von spirituellem Konsum, oder der Heilsuche in einer vielversprechenden Lehre / bei einem tollen Lehrer handelt. 

Doch wie soll das funktionieren? Du willst dich entwickeln, aber nicht an dir arbeiten? Es gibt kein Spiegeln, kein direktes kritisches Feedback für dich? Natürlich kommt da wieder ein Problem im Alltag, eine Lösung muss her… es wird dazu schon was auf Youtube geben… mal schauen was mein Guru dazu gesagt hat… Die Verführung ist unwahrscheinlich groß, da anerzogen, die Lösung für ein Problem auf dem Silbertablett serviert bekommen zu wollen. Habe Problem – gib mir die Lösung. Wie eine Aspirin für die Seele. Am besten mit sofortiger Wirkung. Für mich ist das spiritueller Konsum.

Es gibt heute eine unüberschaubare Anzahl an Angeboten spiritueller Lehren, Lehrer, Meister, Gurus, Coaches… Viele davon bezeichnen das was sie tun, und ich rede hier nicht von unbekannten Leuten, gerne als „moderne Spiritualität“. Aus dieser Ecke kommt auch die Idee, dass niemand einen Lehrer oder Meister braucht, der Guru ist in dir. Also, „Guru“ kommt aus dem Sanskrit und bedeutet Lehrer, ein Verleiher des Wissens, jemand der dir hilft, die geistige Dunkelheit zu vertreiben. Im Buddhismus ist davon die Rede, dass du den Buddha letztlich in dir selbst findest, aber soweit ich das beurteilen kann ist das nicht so gemeint, dass man zu dessen „Findung“ keinen Lehrer bzw. keine Anleitung bräuchte (Und warum bieten die Lehrer der „modernen Spiritualität“ dann überhaupt Seminare an? Braucht man doch gar nicht!). Nun ist diese Idee aber durchaus nachvollziehbar, wenn ein Lehrer selbst keinen Lehrer hat bzw. in keiner Traditionslinie steht, auf die er/sie das eigene Wissen/Können/Weisheit beziehen kann, durch die er/sie zu dem heutigen Stand der eigenen Entwicklung gekommen ist (über die Gründe und Motivationen möchte ich hier nicht spekulieren). Verständlich ist es dann aber sehr wohl, dass die Parole ausgegeben wird niemand bräuchte so etwas, da es 1. den eigenen Status als Lehrer/Coach… legitimiert (falls die Schüler das akzeptieren, aber halt, es ist ja kein Lehrer-Schüler Verhältnis, also – die Kursteilnehmer), und 2. da es zu unserer modernen Entwicklung/Erziehung passt, denn seit einigen Jahrzehnten werden wir als leistungsorientierte Individuen erzogen, die im Wettbewerb mit allen anderen bestehen müssen (Hilfe anzunehmen zeugt von Schwäche, Kritik stört die nötige Stärkung des Selbstbewusstseins). Gerne übersehen wird dabei aber, dass auch diese Lehrer durchaus daran interessiert sind, eine grosse (und gerne auch treue) Gefolgschaft um sich zu versammeln. Die auch gut zahlt – viele einschlägige Angebote sind sehr lukrativ für die Anbieter… 4-stellige Euro-Beträge für ein 4-Tages-Retreat sind eher die Regel als die Ausnahme.    

Nun ist der Mensch aber kein Einzelwesen – wir sind „social animals“. Eine Entwicklung im Alleingang halte ich für artfremd und äußerst fragwürdig. Soziale Kontakte, welche eine Spiegelung, Feedback, Kritik und Rat beinhalten, sind elementarer Teil des Menschseins. Ich denke wir alle brauchen solche Beziehungen – und darunter zumindest einen Menschen, dem gegenüber ich mich wirklich öffnen kann, der ehrlich Feedback und Unterstützung gibt, der selbst schon als Mensch so entwickelt ist, dass ich dieser Unterstützung vertrauen kann und möchte. Zu groß sind einfach die „Gefahren“, sich im Alleingang zu verrennen, und Illusionen nicht als solche zu erkennen.

Das war schon immer so in der Menschheitsgeschichte, und damit meine ich nicht feudale / religiöse / politische / wirtschaftliche / familiäre Abhängigkeits-/Machtverhältnisse, Knecht-Sein unter Ideologien oder Zwängen – sondern Mentoren, die einem bei der Entwicklung als Mensch helfen. Aber natürlich gab es das nicht massenweise, denn früher war die Masse mit Überleben im eigentlichen und im wirtschaftlichen Sinne beschäftigt (und ist es oft auch heute noch), und Religion wurde (wird) leider zu oft als blosses Mittel zur Ruhigstellung und Funktionserhaltung der untertänigen Massen gebraucht. Mentor/Lehrer-Schüler Beziehungen hinsichtlich ganzheitlicher / spiritueller Entwicklung waren so früher eher nicht weit verbreitet, hauptsächlich fand dies wohl hinter Klostermauern, vielleicht in philosophischen Schulen, und auch in den Weisheitslehren Asiens wohl meist nur im Kloster oder Tempel zwischen Mönch und Lehrer/Meister statt.

Erst mit dem Aufkommen der modernen Welt, und der nun allgegenwärtigen und (relativ) freien virtuellen Verfügbarkeit dieser Weisheitslehren durch Medien aller Art, sowie durch die globale reale/körperliche Verfügbarkeit von Lehrern und Seminaren (globales Reisen), ist dies einfach vielen Menschen zugänglich. Und, nicht zu vergessen, vielen geht es in ihrem Leben gut genug, um sich über solche Dinge Gedanken zu machen.

Nun lässt sich eine integrierte menschliche Entwicklung aber eben nicht einfach genauso konsumieren wie alles andere das ich haben will. In der Spiritualität geht es unter anderem, wenn nicht ganz zentral, ums Loslassen, das Gegenteil von Haben, und wie könnte man das überhaupt konsumieren? Nein, meine eigene Entwicklung als Mensch verlangt eben auch ein gehöriges Mass an Arbeit an mir selbst… wofür es seit jeher einen Begriff gibt – Praktizieren. 

Muss das in einem formellen Rahmen (in einem Kurs, einer Schule) stattfinden? Nein, eine direkte Verbindung zu einem Lehrer/Mentor/Coach geht auch. Würde das aber helfen? Ja, denn das ist weiter verbreitet, und einfacher zugänglich. Die Praxis in kleinen Gruppen ist eigentlich ideal, denn einerseits kosten 1zu1-Betreuungen viel Zeit, was bei der hohen Anzahl der Interessenten schwierig ist. Vor allem aber kommt man in einer Praxisgruppe in Kontakt mit anderen Menschen, die ebenso an sich arbeiten wollen. Denn wie gesagt, im Alleingang, ohne Reflexion/Spiegelung/Feedback/Kritik/Hilfe/Rat gibt es eine hohe Wahrscheinlichkeit von Verlaufen, Feststecken und Illusionen… Ein Übungspartner bzw. eine kleine Gruppe kann da sehr hilfreich sein. Und für wichtige bzw. tiefergehende Einzelgespräche steht ja dann immer noch der Lehrer zur Verfügung. 

Und schließlich können wir uns auch inhaltlich einmal fragen: Die grundlegende Idee „ICH kann das alleine“… hmm, wer sagt das? DAS Ich, welches mir mit seinen Gedankenmodellen, Grübeleien, Bewertungen, Anhaftungen, Identifikationen… all die Probleme bereitet die ich habe? Das ICH, das der eigentliche Grund für meine Suche ist? Das ICH, welches dies wahrscheinlich nicht nur vehement abstreitet, sondern mich das in meiner Verblendung gar nicht erst sehen lässt? Kann ICH das wirklich ganz alleine lösen?

Ich bin froh, dass ich Lehrer bzw. Mentoren habe, die mich auf meinem Weg und in meiner Praxis begleiten, helfend und unterstützend, wenn nötig auch mal fordernd oder kritisierend (was sicher nicht immer einfach ist), den Weg nicht nur zeigend, sondern durch eigenes Beispiel vorlebend. Das ist auch gut für die nötige Portion an Demut und Bescheidenheit, denn als Leiter einer Schule, der selbst täglich Schüler anleitet und ihnen bei deren Entwicklung hilft, der Seminare und Workshops unterrichtet und Blog-Artikel schreibt, ist es gut selbst noch einen Lehrer und Mentor zu haben… zu leicht kann man die Bodenhaftung verlieren und sich sonst was einbilden. Und auch mein Lehrer hat selbst noch Mentoren, obwohl er nun schon Mitte 70 ist und diesen Weg länger geht als ich alt bin…  

Ich kann aus meiner Erfahrung nur alle ermutigen, wenn sie sich ernsthaft auf diesen Weg der Entwicklung begeben, dies nicht im Alleingang zu tun… findet einen für euch passenden Lehrer, eine Lehre bzw. Schule, die euch auf allen Ebenen eures Seins anspricht, euch auf eurem Weg voran bringt und dabei auch für euch da ist, die euch eure Mitte finden lässt, die sich tief in eurem Innern richtig anfühlt – auch wenn es nicht immer leicht ist.