Einen Weg gehen – aber wohin?

— von Olaf T. Schubert —

Die meisten beginnen einen Weg zu gehen mit dem Ziel, sich vom derzeitigen Zustand als einer unperfekten Person hin zu einer besseren, perfekteren Person zu entwickeln. Das klingt zwar sehr lobenswert, folgt jedoch dem gleichen Entwicklungsmuster, wie wir an alles zu Erreichende heran gehen… schließlich sind wir alle so aufgewachsen: bei den Eltern, im Umfeld und den Medien abgeschaut, in Schule, Ausbildung, Universität institutionalisiert, beim Erlernen von Sportarten und Instrumenten auch in der Freizeit weitergeführt und mit möglichen Pokalen und Medaillen gewürzt… Überhaupt alles was wir erlernen scheint doch darauf abgestellt zu sein, etwas dazu zu lernen, damit wir mehr können als vorher. Etwas Neues zu können fühlt sich gut an. Ich kann doch was. Ich bin doch was wert. Umso wirkungsvoller, wenn andere mich ob dieser erworbenen Fähigkeiten loben oder gar bewundern. So unterscheidet sich der Erwerb von Fähigkeiten, Können oder Wissen eigentlich nicht vom Erwerb oder Anhäufen von Geld, Dingen, Status…  Alles tun wir in dem Versuch, Jemand zu werden oder zu sein. Ob uns das klar ist oder nicht – geschieht das im Grunde immer im Vergleich zu anderen. Wenn wir so leben, ist natürlich immer was los, man stebt unaufhörlich weiter, Stillstand ist Rückschritt, Ruhe ist unerträglich… Nur manche haben sich sogar bewusst dafür entschieden, alle anderen sind unbewusst in dieser Tretmühle unterwegs. Der Wunsch, etwas zu bekommen oder zu werden was man noch nicht hat oder ist, wird zum Dauergefühl von Mangel – wir leiden. Die Angst, das was man hat zu verlieren, lässt uns ebenso leiden. 

Sind wir darin ausweglos gefangen?

Ich denke nein. Ich gehe seit vielen Jahren den Weg des Shinshin Toitsu Aikido, leite seit 18 Jahren ein Dojo, und bin ich mir mittlerweile sicher, dass viele Wegsuchende nur oberflächlich von dem japanischen Drumrum, von der Selbstverteidigung, von den schönen Bewegungen, von der Aussicht so was cooles zu erlernen angezogen werden. In meiner Erfahrung werden die meisten unbewusst, quasi unter der Oberfläche, von dem angezogen was hier eigentlich “unterrichtet” wird…

“Das Wesen unseres Studiums ist es, Geist und Körper zu vereinen und unsere Einheit mit dem Universum zu erkennen.” (Soshu Koichi Tohei Sensei, Shokushu #1)

Um beim Beispiel des Shinshin Toitsu Aikido zu bleiben… alle Übungsmethoden, ob Ki-Meditation, Ki-Atmung, Ki-Übungen, Kiatsu oder Ki-Aikido, sind so gestaltet, dass sie den Übenden dieses Eins-Sein erfahren lassen. Früher oder später setzt sich die Erkenntnis durch, dass dieser Weg nur sehr oberflächlich betrachtet mit dem Erreichen von etwas im Außen zu tun hat (von anderen erkennbare Fähigkeiten, Lob, Graduierungen), und auch nicht primär die Entwicklung besonderer innerer Eigenschaften zum Ziel hat (ich werde lieber, umgänglicher, z.B., das beschert mir bessere Beziehungen, mehr Erfolg im Beruf, etc.). 

Irgendwann erkennen wir, dass das was wir entwickeln wollen bereits in uns ist, dass der Weg eigentlich nach innen geht, und viel mehr mit Loslassen und Erkenntnis zu tun hat, als mit dem Ansammlen von Fähigkeiten, Wissen, oder Dingen. Das Ziel liegt nicht irgendwo irgendwann in der Zukunft, sondern ist direkt hier und jetzt bereits und schon immer da – nur liegt dieses “tief” in uns verschüttet unter unseren Erfahrungen, Erinnerungen, Wissen, Theorien, Glaubenssätzen, Wertvorstellungen, Anhaftungen… und ist zudem verdeckt von einem nicht enden wollenden und scheinbar unkontrollierbaren Geflecht von strömenden Gedanken und Emotionen. All dies was uns daran hindert sind jedoch Strukturen der Vergangenheit, und auch die Gedanken sind immer mit Vergangenem beschäftigt, oder dem was in der Zukunft kommen mag.

Schaffe ich es, all dies für einen Moment loszulassen, zum Beispiel in der Meditation, die Vergangenheit nicht zu berühren, an die Zukunft nicht zu denken, einfach hier und jetzt zu sein, und dann selbst den Gedanken von „hier und jetzt“ loszulassen, dann bin ich einfach. Bin mein ganz ursprüngliches Selbst, absolut lebendig, ruhig, wach, unverfärbt durch allen relativen Ballast und Verzerrungen des Abbildes, das ich von mir geschaffen habe – das Ego/die Person die sich “Olaf” nennt hat Sendepause. 

So bin ich eins mit allem (dem “Universum”), getrennt von nichts. So ist ein Ki-Test kein Problem, der Tester ruft in mir keine aus Mustern resultierende Reaktion hervor. Mein Übungspartner im Aikido wird nicht als Objekt betrachtet das Ich bewegen will, sondern „wir“ sind eins mit dem Fluss des Ki so wie er sich präsentiert. Im Kiatsu versuche nicht Ich dem Patienten Mein Ki zu geben, sondern Ki, “Patient” und ich sind eins. 

Dürfen wir nun nur noch in diesem Zustand ruhig sitzen oder stehen? Natürlich nicht. Aber wenn wir etwas tun, ist dieses Sein immer da, ist die Quelle allen Tuns, der Raum, in dem alles Tun stattfindet. Und genau dies üben wir letztlich in allen bewegten Übungsformen des Ki-Aikido. Das Ki des Universums fliesst immer und überall. Nur wenn wir unseren Geist entgegen den Prinzipien des Universums einsetzen, haben wir die Erfahrung von gestörtem Ki-Fluss, es stockt, wir stecken fest, es gibt Widerstand und Kampf. Wenn wir unseren Geist entsprechend den Prinzipien des Universums nutzen, fliesst Ki ungehindert. Wir sind frei. Wie benutze ich meinen Geist? Und wer bin ich, der ich meinen Geist so oder so einsetzen kann?

Das relative Ich, das den Weg beginnt zu gehen, wird durch diesen “weglosen Weg” letztlich transzendiert. Entwicklung auf diesem “Weg” nach innen ist daher wirklich Ent-Wicklung – Schicht für Schicht löst sich das uns umfangende Geflecht auf und unser wahres Selbst (Reiseishin), “das eins mit dem Universum ist, kommt zum Vorschein. Lasst uns unser Reiseishin zum Strahlen bringen.” (Soshu Koichi Tohei Sensei, Shokushu #17).